Autorenserien


Unter dem Motto: DIE REVOLUTION DES AUDIO-VISUELLEN wurden hochwertige „Autoren-TV-Serien“ und ihre Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen im Zeichen der Digitalität (des Digitalen) sowie ihr Verhältnis zu traditionellem Kino und Fernsehen im Rahmen des Remediate Projekts thematisiert. Vor zwölf Jahren begann mit der Gefängnisserie OZ des US-Kabelsenders HBO ein neues Zeitalter der Audiovisionen. Bisherige Begrenzungen von Kino- und TV-Formaten wurden zugunsten innovativer serieller Formen überwunden. TV-Serien wie The Sopranos, Breaking Bad, The Wire, In Treatment oder Mad Men weisen neuartige Eigenschaften auf, beispielsweise eine vielschichtige Gesamtnarration, eine komplexe Protagonistenstruktur, eine substanzielle Herangehensweise an das jeweilige Thema und den Wegfall auch von vielen anderen formalen und inhaltlichen Beschränkungen, wie sie traditionell charakteristisch für Fernsehserien waren. Im Zuge dieser Entwicklung wurde zudem die Position des Autors – des im Falle der avancierten TV-Serien sogenannten Creators – in einer Weise gestärkt, wie man dies bisher nur aus dem europäischen Kino oder dem US-amerikanischen Independentfilm kannte. Dieses so genannte »Quality TV« mit seinen Autorenserien bedeutet einen Quantensprung auf dem Gebiet von Film und Fernsehen. Die epische TV-Serie, wie sie vor allem das US-Kabelfernsehen hervorgebracht hat, ist das neue Format zu Beginn eines zweiten Jahrhunderts des Bewegtbildes, das dessen erzählerische Möglichkeiten bedeutend erweitert.
Durch die Digitalisierung hat sich auch das Rezeptionsverhalten nachhaltig geändert: Wurden filmische Werke bislang hauptsächlich in Kino und Fernsehen gesehen, gewinnen jetzt die DVD und das Internet zunehmend an Bedeutung – Aspekte einer umfassenden Remediatisierung im Bereich der Audiovisionen.

Im Rahmen eines dreitägigen ¡REMEDIATE! -Symposiums im Januar 2010 setzten sich Theoretiker und Filmwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und den USA mit diesen bis dato im deutschsprachigen Raum wissenschaftlich noch wenig bearbeiteten Phänomenen auseinander. Autoren, Produzenten und Creators einiger der bedeutendsten US- amerikanischen Serien wie Deadwood, The Wire und OZ gaben Aufschluss über die Arbeitsprozesse und -methoden bei Entwurf, Konzeptualisierung und Realisierung der Serien.

Wir haben begonnen, uns mit Aspekten einer besonderen Art epischer TV-Produkte zu beschäftigen, für die wir den Begriff "Autorenserien" geprägt haben. Einige Merkmale der epischen Autorenserie wurden herausgearbeitet, wie etwa die Prägung durch die Person des "Über-Autors" – des Creators oder Showrunners – und sein Team von AutorInnen, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Figuren und Handlungsstränge, eine bestimmte Realismus- bzw. Authentizitätswirkung sowie häufig gesellschaftspolitische und historische Implikationen oder Positionen. Wir haben die neue Welle epischer Serien im historischen Kontext betrachtet und beispielhaft Aspekte der Machart untersucht. Neue Rezeptionsformen und Medien, die bei diesen Serien besonders geeignet erscheinen, wurden ebenso analysiert wie ihr Bezug zu traditionellen Medien und Rezeptionsweisen – also das Verhältnis etwa von DVD und Buch. Aspekte wie die Politik in Serien oder die Frauenrollen in HBO-Serien oder das Epische in der Sitcom "Frasier" wurden eingehend betrachtet. Ein Highlight des Symposiums waren die Vorträge von und Gespräche mit Tom Fontana, Creator der ersten der neueren US-Autorenserien, der Gefängnisserie "OZ", sowie einer Produzentin von "The Wire" und einem Darsteller und Autor von "Deadwood", die exemplarische Einblicke in Aspekte von Entwurf und Realisierung der jeweiligen Serien gaben.
Mit dem Symposium und dem Buch wurde in Deutschland ein Anfang gemacht für eine Auseinandersetzung mit den Autorenserien, die sowohl geeignet ist, die theoretische Begriffsbildung zu fördern, als auch Anhaltspunkte dafür zu liefern, wie die Qualität epischer Serienformate im deutschen wie europäischen Raum verbessert werden kann.

Ausblick:
Seit dem Symposium hat die Autorenserie vor allem durch die Ausstrahlung von "Mad Men" und "Breaking Bad" auch hierzulande an Popularität stark gewonnen, und auch die Wahrnehmung durch das Feuilleton und andere Medien ist gestiegen. Dennoch besteht weiterhin ein großes Defizit bezüglich einer tiefergehenden Beschäftigung mit den interessantesten Autorenserien im Hinblick auf das Scriptwriting / Drehbuch, die dramaturgischen Strukturen, die Figurenentwicklung, aber auch wichtige Gestaltungselemente wie das Set Design, Ausstattung und Kostüm, Musikeinsatz etc. Zudem ist die Kenntnis der Entwicklungs- und Produktionsprozesse, die zu den hervorragenden Ergebnissen führen, noch äußerst rudimentär. Auf der Ebene des Programmangebots und der Produktionen für das deutsche Fernsehprogramm muss man feststellen, dass etwas den US-Autorenserien Vergleichbares bisher nicht entstanden ist. Man muss sich fragen, warum das so ist, beziehungsweise, was wir von den Vorgehensweisen und Methoden der amerikanischen AutorInnen und ProduzentInnen lernen können. Es soll darüberhinaus der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten hierzulande bestehen, qualitativ hochwertige Serien zu entwickeln und realisieren. Dabei erscheint besonders bemerkenswert die Tatsache, dass es bei uns ein gebührenfinanziertes öffentlich-rechtliches Fernsehen gibt, das über beträchtliche Mittel verfügt, die nicht allein nach Gesichtspunkten einer wie auch immer gearteten und ermittelten „Quote“, sondern unter Realisierung eines Bildungsauftrags auszugeben sind. Diese Situation in Deutschland unterscheidet sich in dieser Hinsicht gravierend von der in den USA, wo kommerzielle Erwägungen durchweg bestimmend für die Entwicklung von Fernsehformaten sind. Man ist insofern geneigt zu fragen, warum bei uns unter diesen aus US-amerikanischer Sicht „paradiesischen“ Zuständen eines öffentlich finanzierten Fernsehens mit Kulturauftrag nicht mehr gewagt und auch gewonnen werden kann. Kann von den amerikanischen Vorbildern gelernt werden? Welche Hindernisse wären ggf. zu überwinden?


Link zur Symposiumsseite
http://mfg.merz-akademie.de/remediate/