Widersprüche visueller Welterzeugung

Ringvorlesungsreihe

Wintersemester 2017/18

Fachbereich Theorie

Kuratiert von

Katja Diefenbach, David Quigley

Vorlesungen

Plakatgestaltung: Alexander Schmidt und Julius Kleinbach. Filmstills aus TOUT VA BIEN (F 1972, R: Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin)

Geschichtsbild und Antifetischismus als Modi kritischer Bildproduktion

Anfang der 1970er Jahre drehen Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin mit Tout va bien, einem der letzten Filme der „Dziga-Vertov-Gruppe“, eine bis heute exemplarische Arbeit, will man die Problematik des politischen Bilds und der visuellen Welterzeugung verhandeln. Der Film nutzt verfremdende, persiflierende und reflexive Stilmittel, um in einen aporetischen Realismus einzuführen, der ein Schlaglicht auf das zeitgenössische Verhältnis von Politik und Ästhetik wirft:

Einerseits wird deutlich, dass die Radikalität des Realismus nicht in der Darstellung „objektiver Fakten“ oder dem Mimetisch-Repräsentativen liegt, sondern in einem kritischen Fiktionalisieren und Fabulieren, das uns sehen lässt, was gesellschaftlich nicht sichtbar ist. Der Film emanzipiert sich vom Vorrang linearer Narration und versetzt uns in eine diskontinuierliche, sprunghafte oder ereignislogische Zeit. Mit den Ton- und Bildspuren driften die konventionellen Sinnzusammenhänge auseinander und zwingen uns, Arbeits-, Geschlechter- und Lebensverhältnisse samt ihrer visuellen Darstellbarkeit neu und anders zu denken. Nicht Weltabbildung, sondern eine um das Ungesehene und Unbekannte organisierte, visuelle Welterzeugung manifestiert sich hier als wahrhaftige Wirklichkeitstreue.

Foto: Florian Model

Andererseits stoßen wir auf eine Bildproduktion, die im Unterschied zu den Avantgarden und Realismen nach der russischen Revolution schneller und unmittelbarer von der Erfahrung kooptierter oder gescheiterter Revolten berichtet. Diese Bildproduktion ist von den politischen Ereignissen um 1968 geprägt, die durch eine mögliche, aber letztendlich verfehlte Begegnung zwischen jungen Aktivist/innen und einer Arbeiterklasse charakterisiert wurden, die gerade dabei war, ganz neue Vorstellungen von der Vielfältigkeit ihrer Zusammensetzung zu entwerfen, alternative Praxisformen zu erproben und sich von parteilichen und gewerkschaftlichen Hierarchien zu emanzipieren. Obwohl sich in diesem Zusammenhang auch die Formen kritischer Bildproduktion mit dem dritten Kino, dem feministischen Film, dem Expanded Cinema oder dem neuen fotografischen Dokumentarismus vervielfachten und intermedialisierten, registriert das ästhetische Regime seit den späten 1960er Jahren das Verschwinden oder Integriertwerden sozialer Kämpfe und die Absorption ihres kulturellen Ausdrucks in einer gesteigerten Kommodifizierung der Lebensformen.

So taucht in der Kunst ein aporetisches Bild auf: Es zeugt von der Stimme, Poesie und Visualisierungsfähigkeit der Subalternen, der Ausgebeuteten, Nichtdazugehörigen oder Andersdenkenden, der Einwander/innen, der Frauen, Arbeiter/innen oder Queers. Gleichzeitig zeichnet dieses Bild auf, was an diesen Stimmen nicht ge- oder überhört, was an ihren Visualisierungen nicht ge- oder übersehen wird. In diesem Sinne ist es durch und durch symptomatisch, dass bei Godard und Gorin die Arbeiter/innen ihre Fabrik besetzen, die gewerkschaftlichen Vermittler herausschmeißen, um schließlich die Wände der Fabrik in Blau zu streichen und die Wandbilder in den Büroräumen zu modernisieren. Dass ihre Handlungs- und Ausdrucksformen ohne gesellschaftlichen Anschluss bleiben, weist auf die Spannung voraus, die die kritische Ästhetik heute kennzeichnet: Sie präsentiert eine politische und poetische Handlungsmacht, die eine einfache Teilung in soziale und künstlerische Praktiken nicht mehr gelten lassen will und sich sowohl in neuen Formen von digitalem Text-, Video- oder Mobile-Film-Aktivismus ausdrückt als auch in reflexiven, auf formale Komplexität abhebenden Kunst- und Bildproduktionen. Gleichzeitig aber sticht die politische Folgen- und Anschlusslosigkeit dieser Arbeiten hervor beziehungsweise ihr Eingang in einen Kapitalisierungsprozess, der möglichst viele Zeichen der Dissidenz zu integrieren sucht. Hinzu kommt, dass sich die ästhetischen Praktiken die Aufmerksamkeit für die kleinen Details des Lebens, für die abseitigen Ausdrucksformen und randständigen Ereignisse, nicht nur mit den Werbe- und Kommodifizierungsmechanismen der Warenwelt teilen, sondern auch mit dem biopolitischen Disziplinar- und Sicherheitsregime, das noch die alleralltäglichsten Artikulationen menschlicher Körper verzeichnet und verwaltet.

Foto: Florian Model

Die Ringvorlesung verhandelt die Aktualität dieser Spannungsverhältnisse visueller Welterzeugung entlang der antithetischen Begriffe des Antifetischismus und des Geschichtsbilds. Dabei werden nicht nur Entstehung und Eskalation dieser Verhältnisse diskutiert, sondern auch ihre widerstreitenden kultur- und gesellschaftstheoretischen Interpretationen. Es gilt hier, sowohl die Herausforderungen als auch die Konservatismen bild- und spektakelkritischer Positionen zu untersuchen, die die emanzipatorische Ästhetik lange Jahrzehnte geprägt haben. Vor allem Debord und die Situationistische Internationale entwarfen eine paradigmatische Bildkritik, die im Anschluss an Lukács und die Marxsche Ideologiekritik die spätkapitalistische Gesellschaft als totale Entfremdungsmaschine präsentierte, in der die Trennung von allem, was unmittelbar erlebbar ist, sich in Bildern verfestigt und zu einer „ungeheuren Sammlung von Spektakeln“ gerinnt. Statt aber eine zukünftige Aufhebung von Kapitalismus und Kunst in idealer Weise in eins fallen zu lassen sowie politische und kulturelle Herrschaft vor allem in trennungs- und entfremdungslogischen Begriffen (und das heißt auch immer in versöhnungslogischer Weise) zu fassen, reflektiert die Vorlesungsreihe Bild und Kunstwerk als dritte, eigenständige, unaufhebbare Sachen. Sie sind gesellschaftliche Streitobjekte, deren Sinn in letzter Instanz niemandem gehört und nicht abschließend totalisiert, sondern nur politisiert werden kann.

Inspiriert vom Pictorial Turn, von dekonstruktiven, poststrukturalistischen und affekttheoretischen Positionen wird diskutiert, wie sich soziale, poetische und visuelle, aber auch wissenschaftliche und ideologische Handlungen in der Existenz, im Gebrauch und im Leben von Bildern überlagern. Zur Frage steht, was in diesen Überdeterminierungsprozessen unter einer Politik der Bilder zu verstehen wäre, die immer auch Bilder der Politik einschlösse. Die Vorlesungsreihe zielt auf eine komplexe, mehrere Perspektiven kombinierende Diskussion, die die Frage nach der bildlichen Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit – dem visuellen „Lesbarmachen“ – extremer oder abstrakter Formen politischer Gewalt und Herrschaftsmacht in Zeiten omnipräsenter Visualität miteinbezieht.