Schuld und Schulden. Leben im Debtfare-Staat

Ringvorlesungsreihe

Wintersemester 2015/16

Fachbereich Theorie

Kuratiert von

Katja Diefenbach, David Quigley

Vorlesungen

Plakate entworfen von Dennis Kulbe, Denisa Tanase, Caroline Wiederkehr.

1921 schreibt Walter Benjamin, dass der Kapitalismus die einzige uns bekannte Religion darstellt, die nicht entsühnt, sondern unendlich verschuldet – eine Religion, die keine Theologie oder Dogmatik kennt, in ihrer Ausübung aber „sans trêve et sans merci“ ist, ohne Waffenruhe und ohne Gnade. Knapp hundert Jahre später scheint sich diese Diagnose in umfassendem Maße bewahrheitet zu haben. Trotz der wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, ihrer strukturellen Ungerechtigkeit und der wachsenden Prekarisierung der Lebensverhältnisse ist der allgemeine „Glaube“ an dieses Modell kaum ins Wanken geraten.

In der aktuellen Finanzkrise lässt sich besonders gut beobachten, wie wirtschaftliche und moralische Schulden im Sinne von Benjamins kritischer Diagnose bedenkenlos miteinander identifiziert werden. Obwohl die steigenden Staatsdefizite im Euro-Raum auch als Folge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise zu begreifen sind, die 2007 am US-amerikanischen subprime-Hypothekenmarkt aufbrach, wird die Schuldenproblematik in der deutschen Politik und Öffentlichkeit vor allem in moralisierten Begriffen des „Über-die-eigenen-Verhältnisse-Gelebt-Habens“ diskutiert. Dadurch wird eine kritische Analyse des deutschen Modells unterbunden, das der Soziologe Pierre Bourdieu bereits 1997 unter Bezug auf den damaligen Bundesbankpräsidenten als „Modell Tietmeyer“ und „Hohepriestertum“ des Neoliberalismus bezeichnete. Heute umfasst das „Modell Schäuble“ noch dieselbe marktradikale Agenda: Primat von Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskontrolle, Deregulierung und Privatisierung, Lohnzurückhaltung und Arbeitsflexibilität.

Neu hinzugekommen ist die Anwendung von Strukturanpassungsprogrammen, die die US-amerikanische Administration in den 1980er Jahren in Lateinamerika erprobte und die damals, genauso wie jetzt in Griechenland, die Preisgabe staatlicher Souveränität (von demokratischer ganz zu schweigen), die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur, die Öffnung der Märkte und die Senkung der Sozialleistungen mit sich brachte. Aus diesem Grund sprach der Soziologe Stephan Lessenich in der Süddeutschen Zeitung jüngst von der „inneren Kolonialisierung Europas“.

Die Ringvorlesung nimmt diese sozialen Erschütterungen, die den Übergang vom Welfare- zum Debtfare Staat abschließen, zum Ausgangspunkt kritischer Reflexion. Die Identifizierung von „Schuld und Schulden“, auf der Benjamins Diagnose der religiösen Struktur des Kapitalismus basiert, wird nicht nur in ökonomiekritischer, sondern auch und vor allem in existentieller, philosophischer und institutionskritischer Hinsicht hinterfragt.

Isabell Lorey spricht am 24.11. über die Prekarisierung der Arbeits- und der Lebensverhältnisse und wie neue Regierungsstrategien der Unsicherheit und der Risikoprivatisierung durch einen moralischen Diskurs der Verschuldung legitimiert werden. Am 1.12. legt Stefan Heidenreich die Entwicklungen der subprime-Krise und die Logik des finanzdominierten Kapitalismus dar. Rita Bischof nimmt am 8.12. die Praktiken der acéphale-Gruppe um Bataille und Klossowski zum Anlass, um über die Geschichte existentieller und anökonomischer Strategien – Verausgabung, Gabe oder Opfer – zu reflektieren.

Am 15.12. untersucht Susanne Leeb angesichts der Verdrängung des europäischen Kolonialismus und der damit verbundenen „anderen Schuldgeschichte“ die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über die Rückgabe kolonialer Exponate in Museen und ethnologischen Sammlungen.
Felix Ensslin spricht am 12.01.2016 über die Figur „Schuld ohne Sühne“ bei Benjamin und Pasolini.

Katja Diefenbach zeigt am 26.1. anhand der Kontroverse zwischen Hobbes und Spinoza, wie sich die gewalttätige Entstehungsgeschichte der Weltwirtschaft in die moderne politische Philosophie eingeschrieben hat und debattiert die Aktualität von Spinozas Kritik des Besitzindividualismus.