1921 schreibt Walter Benjamin, dass der Kapitalismus die einzige uns bekannte Religion darstellt, die nicht entsühnt, sondern unendlich verschuldet – eine Religion, die keine Theologie oder Dogmatik kennt, in ihrer Ausübung aber „sans trêve et sans merci“ ist, ohne Waffenruhe und ohne Gnade. Knapp hundert Jahre später scheint sich diese Diagnose in umfassendem Maße bewahrheitet zu haben. Trotz der wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, ihrer strukturellen Ungerechtigkeit und der wachsenden Prekarisierung der Lebensverhältnisse ist der allgemeine „Glaube“ an dieses Modell kaum ins Wanken geraten.
In der aktuellen Finanzkrise lässt sich besonders gut beobachten, wie wirtschaftliche und moralische Schulden im Sinne von Benjamins kritischer Diagnose bedenkenlos miteinander identifiziert werden. Obwohl die steigenden Staatsdefizite im Euro-Raum auch als Folge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise zu begreifen sind, die 2007 am US-amerikanischen subprime-Hypothekenmarkt aufbrach, wird die Schuldenproblematik in der deutschen Politik und Öffentlichkeit vor allem in moralisierten Begriffen des „Über-die-eigenen-Verhältnisse-Gelebt-Habens“ diskutiert. Dadurch wird eine kritische Analyse des deutschen Modells unterbunden, das der Soziologe Pierre Bourdieu bereits 1997 unter Bezug auf den damaligen Bundesbankpräsidenten als „Modell Tietmeyer“ und „Hohepriestertum“ des Neoliberalismus bezeichnete. Heute umfasst das „Modell Schäuble“ noch dieselbe marktradikale Agenda: Primat von Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskontrolle, Deregulierung und Privatisierung, Lohnzurückhaltung und Arbeitsflexibilität.