Was heißt es, ein Vermögen zu haben und was heißt es, unvermögend zu sein? Für Aristoteles kann nur ein Architekt, der das Vermögen hat zu bauen, entscheiden, es nicht auszuüben. Und nur ein Architekt kann dieses Vermögen zu bauen verlieren. Er kann in diesem Sinne unvermögend werden. Ein Vermögen zu haben bedeutet also immer eine Gleichzeitigkeit von Können und Nichtkönnen, von Potenz und Impotenz. Solange das Vermögen nicht ausgeübt wird, bleibt es in einem solchen Schwebezustand – alles ist möglich, Sein oder Nichtsein.
Giorgio Agamben radikalisiert Aristoteles’ Beispiel vom Architekten und erzählt die Geschichte einer Zecke, die in einem Rostocker Labor völlig abgeschnitten von ihrer natürlichen Umgebung verharrt, ohne ihr Potential (Blutsaugen – Eierlegen – Sterben) auszuschöpfen, als hätte sie alle Möglichkeiten – vielleicht gerade, weil sie sie nicht nutzt. Sie lebt, aber ohne ihr Leben zu leben. Bartleby, der Schreiber, der nicht schreibt, ist dieser Zecke ähnlich: Aber er wirkt mit seiner Geste der Enthaltung, die keine eindeutige Verneinung ist, tief in seine Umgebung hinein und unterläuft deren Logik.
Juliane Schiffers, geboren 1977, hat Philosophie und Theaterwissenschaft in Berlin studiert und lehrt seit 2008 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet an einer Dissertation zu Begriff und Erfahrung von Passivität bei Aristoteles, Leibniz und Heidegger. Seit 2001 ist sie dem SFB 447 Kulturen des Performativen assoziiert, derzeit dem Teilprojekt B9 „Zur Performanz sprachlicher Gewalt oder: Warum Worte verletzten“ (Leitung: Prof. S. Krämer, Berlin).